Leseprobe "Als die Elefanten kamen"
Kapitel 1 – Luisa
April Hoedspruit, Südafrika
Der Himmel schien hier näher zu sein, fast greifbar spannte er sich über die Landschaft. Hellblau, mit weißen Wolken und dabei klar und rein in den Farben, ein leuchtender Kontrast zu der roten Ebene, die links und rechts neben der Straße lag. Überall duckten sich drahtige Bäume und Büsche, die auf ihren Ästen den Staub der Erde trugen, nur wenige trotzten der Hitze mit grünen Blättern.
Luisa vermochte ihren Blick aus dem Autofenster kaum von der so andersartigen Natur loszureißen. Obwohl die Strapazen der Anreise, der lange Flug nach Johannesburg, die Weiterreise zum winzigen Flughafen von Hoedspruit und die Übernahme des Mietwagens an ihren Kräften zehrten, war die Müdigkeit von ihr abgefallen, seit sie sich, ganz ungewohnt auf der linken Seite, auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte. »Was für eine Landschaft«, bemerkte sie. »So anders als zuhause, oder?« Sie drehte den Kopf zu ihrer Freundin Emma, die den Blick konzentriert auf die Straße geheftet hatte, und das Lenkrad mit beiden Händen festhielt.
»Ja.« Emma nickte. »Und das ist noch gar nichts. Warte mal ab, was du in den nächsten Tagen noch alles zu sehen bekommst. Der Blyde Canyon ist richtig spektakulär, darauf freue ich mich am zweitmeisten.«
»Und am meisten?«
»Na, auf meinen Bruder! Wir haben uns so lange nicht gesehen, ich kann es kaum erwarten, ihn in die Arme zu schließen.« Bei diesen Worten drückte sie noch etwas mehr aufs Gas. Luisa lächelte und schaute wieder aus dem Fenster. Es kam ihr seltsam irreal vor, jetzt hier zu sein. Weit weg von Köln und ihrer Wohnung, von der aus sie gestern Abend aufgebrochen war.
»Nur noch zwei Minuten«, erklärte Emma strahlend und bog dabei von der geteerten Straße auf einen befestigten Weg ab. Ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren, steuerte sie den ruckelnden Kleinwagen an einigen Grundstücken vorbei, folgte dann einem Hinweisschild zu einem Parkplatz und bremste scharf direkt vor einem Baumstamm, der als Markierung diente. Der Kies unter den Rädern knirschte.
»Wir sind da!« Emmas Stimme kiekste aufgeregt und die Vorfreude ihrer Freundin ließ Luisa grinsen.
Die Frauen stiegen aus und während Emma es nicht abwarten konnte und sofort zum Haus eilte, betrachtete Luisa einen Moment lang das Gebäude, in dem sie in den nächsten Tagen leben würde. Was sie sah, gefiel ihr auf Anhieb. Das reetgedeckte Dach hatte eine ähnliche Farbe wie die beige getünchten Mauern und fügte sich damit in die Umgebung ein, als wolle es nicht groß auffallen. »Black Elephant Lodge« stand in großen Lettern über der aufgemalten, dunklen Silhouette eines Elefanten. Alles wirkte sauber und gepflegt und die blühenden Kübelpflanzen, die rechts und links neben dem bogenförmigen Eingang standen, verliehen dem Anwesen eine freundliche Note.
Luisa nahm ihren Rucksack aus dem Wagen, ordnete ihre blonden, leicht gewellten Haare, dann ging sie ebenfalls in Richtung des Hauses, bis sie stehenblieb, um mit ein paar Schritten Abstand das Wiedersehen von Emma und ihrem Bruder zu beobachten und nicht zu stören. Luisa kannte ihn nur von Fotos, aber der Mann, der da lachend mit weit ausgebreiteten Armen auf Emma zulief, musste Marc sein.
Erst jetzt, da sie Marc leibhaftig vor sich sah, bemerkte Luisa die Ähnlichkeit zwischen ihm und Emma. Beide hatten eine ovale Gesichtsform und ihre Haare hatten die gleiche brünette Farbe, wobei Emma ihre mit stets wechselnden Tönungen und Strähnen variierte. Aktuell trug sie dunkelblonde Nuancen. Marc war etwas mehr als einen Kopf größer als Luisa selbst, was bei ihren knappen 1,65 Meter nicht schwer war, und unter seinem schmal geschnittenen Shirt und der knielangen Cargohose erkannte sie einen sportlichen Körper.
Gutaussehender Mann. Viel besser, als ich ihn mir von den Fotos her vorgestellt habe.
Emma und Marc umarmten sich lange und fest und Luisa beobachtete gerührt, wie glücklich Emma dabei aussah. Schließlich lösten sich die Geschwister voneinander und richteten ihre Aufmerksamkeit auf Luisa. »Das ist mein Bruder Marc. Marc, das ist Luisa, meine beste Freundin.«
Ein neugieriges Lächeln legte sich auf Marcs Gesicht, seine braunen Augen glänzten warm, dann umarmte er auch Luisa zur Begrüßung. »Herzlich willkommen in meiner Lodge«, sagte er und Luisa hatte für einen Moment das verwirrende Gefühl, ihn längst zu kennen. Marcs Stimme, das Gefühl seiner Umarmung und sein würziger Duft wirkten unerwartet vertraut auf sie. Als würde sie einen Ort besuchen, an dem sie seit Jahren nicht gewesen war, der sich zwar verändert hatte, aber an dem sie sich noch immer auskannte.
Sie überspielte ihre Irritation mit einem Lächeln. »Danke. Ich freue mich sehr, dich endlich persönlich kennenzulernen.«
»Geht mir auch so.« Marc nickte und Luisa studierte seinen Blick.
Komme ich ihm auch bekannt vor? Ach, Unsinn. Ich bin einfach müde und er ähnelt Emma, das ist alles.
»Habt ihr Lust auf einen Willkommensdrink oder soll ich euch erst eure Zimmer zeigen?« Er schaute zwischen den beiden Frauen hin und her. Erst jetzt wurde Luisa bewusst, wie intensiv sie ihn in den letzten Sekunden betrachtet hatte, und strich sich verlegen über ihre Haare. Emma und Luisa mussten nicht lange überlegen, sie entschieden einvernehmlich, dass der Bezug der Zimmer warten konnte.
Marc ging voran, die Freundinnen folgten ihm. Sie durchquerten die Lobby, einen hellen Raum, der in sanften Naturtönen gehalten war. Zwei sich gegenüberstehende Sofas dienten als Sitzgelegenheiten, in der Mitte stand ein flacher Tisch im afrikanischen Stil, auf dem Bildbände lagen. Stehlampen mit aus Bambus geflochtenen Lampenschirmen setzten Akzente und an der Wand über einer halbrunden Theke, die mit einem Holzschild als Rezeption ausgewiesen war, wachte ein mächtiger, geschnitzter Elefantenkopf. Luisa ließ den Blick nach oben wandern, wo dunkle Balken das Dach trugen. Alles wirkte stimmig und typisch afrikanisch, aber ohne Klischees zu bedienen. Weder hingen hier Tierköpfe noch war ein Zebramuster zu sehen. »Und, was sagst du? Ist ganz hübsch hier, nicht wahr?«, fragte Emma neben ihr.
»Es sieht toll aus.« Luisa nickte beeindruckt und Emma lächelte stolz. Dann traten sie aus der Lobby in den Außenbereich. Luisa entdeckte einen Pool, um den einige Sonnenschirme und Liegestühle platziert waren. Ein Paar mittleren Alters sonnte sich dort und grüßte die Neuankömmlinge mit einem Winken. Etwas weiter entfernt lag ein kreisförmiger Grillplatz mit Steinbänken. Palmen in dicken Steinkübeln standen überall auf dem Gelände und reckten ihre Blätter der Sonne entgegen. Sie gingen zu einem überdachten Ess- und Barbereich, wo Marc sich hinter einer Theke daran machte, Eiswürfel in Gläser zu füllen. Emma und Luisa setzten sich auf die Barhocker, Marc reichte ihnen ihre Getränke und sie stießen an. Der kühle Saft aus exotischen Früchten schmeckte süß und erfrischend. »Schön, dass ihr endlich da seid.«
»Ich bin jetzt schon total beeindruckt, wie geschmackvoll hier alles eingerichtet ist«, gestand Luisa und bedankte sich dafür, dass Marc sie kostenlos in seiner Lodge übernachten ließ.
»Ehrensache, du bist schließlich Emmas beste Freundin. Und dir habe ich es ja offenbar zu verdanken, dass Emma überhaupt mal wieder hierhergekommen ist.« Seine Augen blitzten vergnügt.
»Es war ihre Idee«, beteuerte Luisa und Emma ergänzte: »Aber wenn du mich nicht gefragt hättest, was du mit zwölf Tagen Resturlaub anfangen sollst, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, ohne David zu verreisen. Da fällt mir ein, ich muss ihn gleich noch anrufen, damit er weiß, dass wir gut angekommen sind. Bin sofort zurück.«
Sie fischte ihr Handy aus der Hosentasche und entfernte sich ein paar Meter. Luisa überlegte, dass sie ihrer Mutter ebenfalls Bescheid sagen sollte, aber sie wartete sicher nicht so sehnsüchtig auf eine Meldung von ihr, wie David das bei Emma tat. Sie würde sich später bei ihr melden.
Marc rief Emma nach. »Grüß David von mir!« Dann wandte er sich an Luisa. »Du hattest also noch Resturlaub?«
»Ja, ich habe meinen Job gekündigt und noch ein paar Tage übrig. Im Mai trete ich eine neue Stelle an und da werde ich wahrscheinlich nicht mehr so bald frei haben, deshalb wollte ich gern noch die Zeit nutzen, um zu verreisen. Dass es gleich um die halbe Welt sein würde, habe ich nicht unbedingt geplant.« Sie lachte und nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas. »Wo arbeitest du denn? Oder anders gefragt: Was ist dein neuer Job?«
Ohne sich dessen bewusst zu sein, richtete Luisa sich auf dem Barhocker ein wenig auf.
»Ich bin Texterin und fange in der Werbeagentur meiner Mutter an. Der Plan ist, dass ich die Agentur in zwei, drei Jahren übernehme, damit meine Mutter sich zur Ruhe setzen kann.«
»Oh.« Ihr Gegenüber nickte anerkennend. »Herzlichen Glückwunsch, das klingt nach einer ziemlich guten Position.«
»Ja, das ist es auch.« Sie war stolz, doch es widerstrebte ihr, jetzt und hier darüber zu sprechen. Viel mehr interessierte sie, etwas über Marc zu erfahren. Emma erzählte zwar oft von ihrem Bruder, aber Luisa wollte seine Geschichte gern aus seinem Mund hören.
»Und was ist mit dir? Wie hat es dich hierher verschlagen?«, fragte sie und strich sich eine Strähne ihres Haars hinter das Ohr.
Marc legte den Kopf ein wenig schief. »Oh, das ist eine längere Geschichte.«
»Ich habe Zeit.« Er lächelte und es war offensichtlich, dass er sich über ihr Interesse freute. »Ich bin nach meinem Abi ein paar Monate durch Afrika gereist, erst Kenia und Botswana, dann Südafrika. Irgendwann bin ich hier in der Gegend gewesen und hab mich auf einer Safari rettungslos in das Land verliebt. Ich fand es faszinierend, wilden Tieren so unmittelbar zu begegnen, das war sehr erdend, wenn du verstehst, was ich meine.«
Luisa nickte, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob sie es tatsächlich wusste.
»Als ich wieder zurück in Köln war, habe ich wie geplant angefangen, brav Biologie zu studieren, zumindest offiziell. Vier Semester habe ich durchgehalten, aber im Grunde habe ich die ganze Zeit nur gearbeitet, lauter Studentenjobs, um möglichst schnell Geld zu verdienen. Da blieb das Lernen etwas auf der Strecke, ehrlich gesagt. Aber mein Plan war, zurück nach Südafrika zu gehen, eine Ranger-Ausbildung zu machen, um hier Safaris zu begleiten. Und als ich das Geld endlich zusammen hatte, habe ich das auch genau so gemacht. Ich habe das Studium ad acta gelegt, bin hergeflogen und habe mich zum Field Guide ausbilden lassen.«
»Oh, wow, das klingt spannend. Was lernt man denn da?«, fragte Luisa und rührte in ihrem Getränk.
»Die grundlegendste Basis, um da draußen einigermaßen zurechtzukommen«, sagte Marc. »Navigation, Sternenlesen, Geologie, aber natürlich dreht sich das meiste um Tiere. Man übt, die Fährten zu lesen, Laute zu identifizieren und etwas über die Tiere erzählen zu können. Und vor allem muss man lernen, das Verhalten richtig zu interpretieren. Wenn ein Elefant völlig unerwartet direkt vor dir aus dem Busch auftaucht, ist es wichtig, dass du weißt, was du tun musst.«
»Ich würde sofort mein Handy zücken und ihn fotografieren!«, behauptete Luisa mit einem Augenzwinkern und Marc lachte.
»Das möchten die meisten Touristen, deshalb gibt es die Ranger, um aufzupassen. Es sind eben wilde Tiere, keine Begegnung ist wie die andere und nicht alle sind ungefährlich.«
»Das glaube ich sofort.«
»Aber alle sind spannend. Es war eine unglaubliche Erfahrung für mich. Morgens aufzuwachen und Löwengebrüll zu hören oder nachts die unglaublichsten Sternenhimmel über dir zu sehen, während du in einer Hängematte im Camp liegst, ist mit nichts zu vergleichen. Allein die Weite der Landschaft hier! Ich finde, hier kann man richtig atmen. Für mich war nach den drei Monaten Ausbildung klar, dass ich weitermachen und noch mehr lernen muss. Also habe ich noch ein paar weitere Lehrgänge gemacht und dann einige Jahre als Ranger in verschiedenen Reservaten gearbeitet. Das war eine tolle Zeit, sehr intensiv und lehrreich. Ich habe viele spannende Menschen kennengelernt und Situationen erlebt, die ich nie mehr vergessen werde.«
Luisa betrachtete ihr Gegenüber. Sie versuchte, ihn sich als Ranger vorzustellen, mit khakifarbener Uniform und einem Gewehr über der Schulter und fand dieses Bild ziemlich attraktiv. Marcs Erzählungen und seine Mimik waren so lebendig, dass es offensichtlich war, wie glücklich ihn diese Zeit gemacht hatte.
»Aber jetzt hast du ein B&B«, stellte Luisa fest.
»Ja. Das war ein bisschen ungeplant. Ich hatte vor fünf Jahren einen dummen Unfall mit dem Auto, dadurch konnte ich eine Weile nicht arbeiten. Währenddessen habe ich das Angebot bekommen, dieses B&B zu kaufen. Es war ganz schön runtergekommen und ein eigenes Hotel zu führen, hatte ich nie vorgehabt. Aber ich fand es spannend, etwas Neues auszuprobieren.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Also habe ich es tatsächlich gekauft, einen Businessplan entworfen, alles renoviert und eröffnet. Das ist jetzt dreieinhalb Jahre her und es macht mir viel Spaß. Mehr, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich treffe Menschen aus der ganzen Welt und habe die Wildnis direkt vor der Haustür. Perfekt für mich.«
»Und Safaris? Machst du die jetzt auch noch nebenher?«
»Nein, nur noch gelegentlich. Ich bin immer noch gern in der Natur unterwegs, aber nur noch privat. Eine Safari zu leiten ist wahnsinnig anstrengend. Man trägt die volle Verantwortung für die Gäste, muss sich stundenlang darauf konzentrieren, Tiere zu entdecken, sie erklären und ganz nebenbei fahren, auch offroad. Das schlaucht ganz schön.«
»Jetzt, wo du das sagst, verstehe ich das. Darüber habe ich vorher noch nie nachgedacht«, gab Luisa zu. Dann kam ihr ein anderer Gedanke. »Und deine Familie? Was hat die dazu gesagt, als du dich hier niedergelassen hast?« Luisa fiel auf, dass Emma sich noch nie darüber beklagt hatte, dass Marc so weit weg von ihr lebte. Seit sie vor etwa drei Jahren Freundinnen geworden waren, war Marcs Abwesenheit einfach der Status quo.
»Na ja, kennst du meine Eltern?« »Nicht gut. Wir haben uns ein paar Mal bei irgendwelchen Gelegenheiten getroffen, als Emma mit David zusammengezogen ist zum Beispiel.«
Marc nickte. »Dann weißt du ja vielleicht, dass sie selbst Weltenbummler sind. Sie sind dauernd unterwegs und haben mir die Neugierde auf andere Länder in die Wiege gelegt, deshalb hatten sie auch keine großen Einwände, als ich ihnen gesagt habe, dass ich dauerhaft in Südafrika bleibe. Sie finden es sogar ganz praktisch, dass sie hier jetzt immer Urlaub machen können. Emma hat am Anfang allerdings ziemlich rumgemäkelt, sie ist halt meine kleine Schwester und wollte mich in ihrer Nähe behalten. Aber inzwischen hat sogar sie eingesehen, dass jeder sein Leben selbst gestalten muss. Mehr oder weniger jedenfalls.«
»Was habe ich eingesehen?« Emma trat wieder zu ihnen.
»Dass ich hier lebe.«
Emma seufzte. »Tja, so ist das eben. Obwohl ich dich viel lieber in Köln hätte! Aber jeder Jeck ist anders, nicht wahr? Liebe Grüße an euch beide von David. Er ist irre neidisch.«
»Kein Wunder, wäre ich auch«, sagte Luisa und schaute sich noch einmal um.
Was für ein einmalig schöner Ort.
Emma griff ihr Glas und trank es in einem Zug aus. »Ich bin sehr dafür, dass du uns jetzt unsere Zimmer zeigst, Bruderherz. Ich möchte mich nämlich frischmachen und gleich in den Pool hopsen. Wie steht’s bei dir, Luisa?«
»Ich bin dabei.«
»Heute Abend steht übrigens Braai auf dem Plan, Thuli hat schon alles vorbereitet«, ließ Marc sie wissen.
»Braai ist die südafrikanische Version des Grillens. Und Thuli ist die Köchin«, erklärte Emma und Luisa nickte.
»Davon habe ich gelesen. Also, vom Braai. Darauf freue ich mich.«
Marc nickte erfreut. »Perfekt! Die Damen, bitte folgt mir jetzt zu den Zimmern.«