Kapitel 1
Emilia
Mitte Juli in der Champagne, Frankreich
Die Rebstöcke zeichneten ordentliche Muster aus geraden Linien in die sanft geschwungenen Hügel, ein schier unendliches Meer aus grünen Blättern, das sich bis zum Horizont erstreckte. Als bestünde die Welt nur aus Wein.
Emilia hielt ihren Wagen auf einer Anhöhe an, öffnete das Fenster und betrachtete die Landschaft. Sie hatte sie vermisst. Vor drei Jahren war sie zuletzt hier gewesen, bevor sie nach England gegangen war, um die Schule abzuschließen. Die Zeit seitdem kam Emilia vor wie eine Ewigkeit, aber während sie selbst erwachsen geworden war, hatte sich an diesem Ort offenbar nichts verändert. Der Anblick der Weinberge, die würzige Luft, die nun in das Auto strömte, und selbst das Licht der hoch stehenden Sonne, das sie blinzeln ließ, waren ihr noch immer zutiefst vertraut. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Gleich würde sie am »Château Mirabelle« ankommen, dem Champagnergut ihres Vaters, dem Haus, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte und in dem sie sich so wohl wie nirgendwo sonst auf der Welt fühlte. Endlich würde sie die Menschen wiedersehen, die ihr so wichtig waren. Allen voran ihr Vater, aber natürlich auch Thierry, ihr lieber Freund aus Kindertagen, und seine Eltern Rosalie und Emanuel, die auf dem Gut lebten und arbeiteten.
Ohne das Fenster wieder zu schließen, fuhr sie weiter auf der Straße, die sich durch die Hügel schlängelte. Sie gab nun mehr Gas als vorher, der Fahrtwind spielte mit ihren langen Haaren und sie drehte die Musik auf, die aus den Boxen drang. Laut sang sie den Text des Liedes mit und winkte im Vorbeifahren einem älteren Herrn auf einem Traktor zu, den sie als Einwohner des Dorfes erkannte. Er warf ihr einen verständnislosen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, erst spät schien ihm aufzugehen, wer die junge Frau war, die da zu schnell durch die enge Straße kurvte, und er rief ihr ein freundliches »Oh, bonjour, Mademoiselle Emilia« nach.
Kaum eine Viertelstunde später passierte Emilia den Torbogen des Châteaus und hielt im Innenhof neben dem Mercedes ihres Vaters. Die Blätter des Mirabellenbaums, der in der Mitte zwischen den beiden Wohnhäusern stand und dem Gut den Namen gegeben hatte, rauschten wie zur Begrüßung. Emilia stieg aus, der Kies unter ihren Füßen knirschte leise. Lächelnd sah sie sich um, aufmerksam beobachtet von einem Vogel, der auf dem Dach des Haupthauses saß. Die grünen Fensterläden des Gebäudes waren geöffnet, wohl um Luft hineinzulassen. Aus dem Nebenhaus, das einst ein Pferdestall gewesen war und vor Jahrzehnten zu einem Wohnhaus umgebaut worden war, drang leise Musik. Ein französischer Schlager, der den Zauber der Liebe besang.
»Emilia! Willkommen zurück«, hörte sie eine vertraute Stimme und drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Salut, Rosalie«, rief sie hocherfreut, bevor die kleine rundliche Frau sie fest umarmte.
»Ich freue mich so sehr, dich wieder bei uns zu haben! Lass mich dich ansehen!«, forderte Rosalie, schob Emilia an den Schultern ein kleines Stück zurück und warf einen forschen Blick auf sie. »Mon Dieu, du bist ja eine Frau geworden! Das gibt es doch nicht. Du warst doch gerade noch ein Kind.«
»Nun ja, ich bin jetzt neunzehn«, erinnerte Emilia sie schmunzelnd.
Rosalie musterte sie noch immer kopfschüttelnd, als Emilia über ihre Schulter hinweg einen weiteren Menschen entdeckte, der den Innenhof betrat. »Papa!«
Martin Schwertfeger breitete seine Arme aus. »Da bist du ja endlich.«
Sie lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Hallo.« Emilia genoss es, ihn zu umarmen, auch wenn ihr Vater kein Mensch war, der körperliche Nähe schätzte.
Nach einigen Sekunden löste er sich von ihr und lächelte freundlich. »Hattest du eine gute Reise?«
»Ja. Der Flug hatte über zwei Stunden Verspätung, aber das Auto hat allen Ärger darüber vertrieben.« Sie deutete lächelnd auf den roten Sportwagen, den ihr Vater für sie gemietet hatte. »Vielen Dank dafür. Das war eine schöne Überraschung.«
Er nickte lächelnd. »Meine Abiturientin sollte einen guten Start in die Ferien haben.«
»Den habe ich«, versicherte Emilia und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass jemand in der geöffneten Tür stand und sie ansah. »Salut, Emanuel«, begrüßte sie den älteren Herrn, der nun auf die zutrat und sie dann warmherzig anlächelte.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Emilia.«
»Danke. Oh, es ist wunderbar, euch alle wiederzusehen! Ich habe mich lange darauf gefreut, hierherzukommen, und ich bin so glücklich, dass ich die nächsten Wochen hier bin«, rief sie und schaute dabei in die Runde. »Wo ist Thierry?«
»Hier«, klang es vom Torbogen und Emilia kniff die Augen zusammen, um die Gestalt, hinter der das Sonnenlicht sie blendete, besser erkennen zu können. Der junge Mann in Jeans und Hemd kam näher, jetzt erkannte sie sein Gesicht, die dunklen Haare, die wie immer verwuschelt in alle Richtungen standen, die freundlichen bernsteinfarbenen Augen, sein breites Lächeln, das von einem Bart umrahmt wurde, den Emilia noch nie an ihm gesehen hatte.
»Dachtest du etwa, ich erwarte dich nicht?« Er trat auf sie zu und sie küssten sich links und rechts auf die Wange, bevor er sie umarmte. »Schön, dass du da bist, Emmi.«
Emmi. Seit drei Jahren hatte niemand mehr sie so genannt, das tat nur er, schon immer, seit sie Kinder waren. Es klang weich und vertraut in ihren Ohren, und sie sah ihn an, ihren alten Freund, mit dem sie schon so viele Sommer verbracht hatte, der noch immer so duftete wie früher, wie Moos nach einem Regenguss, und dessen Stimme sie aus Tausenden herausgehört hätte. Er war es, ihr Freund Thierry, und doch war an die Stelle des Altvertrauten etwas Neues getreten. Etwas, das sie irritierte und das es ihr schwer machte, ihren Blick von ihm abzuwenden. »Ich freue mich auch«, sagte sie und klang dabei so überrumpelt, wie sie sich fühlte. Sie schob ein Lächeln nach und fragte sich, ob sie in seinen Augen dieselbe Unsicherheit las, die sie empfand.
»Hast du Hunger, Emilia? Ich habe ein paar Kleinigkeiten vorbereitet.« Rosalie blinzelte sie an.
»Sie hat den ganzen Tag in der Küche gestanden«, ergänzte Emanuel, aber Rosalie winkte ab, als sei das kaum der Rede wert.
»Ich habe Riesenhunger«, behauptete Emilia rasch, weil sie ihre mütterliche Freundin nicht vor den Kopf stoßen wollte. »Ich würde nur gern kurz unter die Dusche springen, wenn das okay ist.«
»Selbstverständlich ist es das«, brummte ihr Vater, und Emilia fiel wieder ein, dass er zu große Vertraulichkeiten zwischen seiner Tochter und seinen Angestellten nicht schätzte. »Mach ganz in Ruhe. Wir sind schließlich im Urlaub. Thierry? Trag doch bitte Emilias Gepäck nach oben.«
»Natürlich, Monsieur Schwertfeger.« Er wuchtete Emilias vollgepackten Koffer mit Leichtigkeit aus dem Kofferraum und trug ihn ins Haus.
Emilia sah ihm nach, dann lächelte sie. Sie war wieder hier, in diesem wunderschönen Haus, das sie so liebte. Bei Menschen, die ihr vertraut waren, als sei jeder einzelne ein Teil ihrer Familie. Sie hatte sich noch nie mehr auf einen Sommer gefreut als auf diesen.