Leseprobe
Kapitel 1
Alina
Manambaro, im Süden von Madagaskar
Die Februarsonne stand hoch am Himmel über Madagaskar, ihre sengenden Strahlen ließen die Luft über dem staubigen Boden flirren wie ein lebendiges Wesen. Selbst im Inneren der Klinik, die im schützenden Schatten hoher Bäumen lag, waren die Temperaturen schwer erträglich.
Alina fächerte sich mit der Hand etwas Luft zu. Vor einer Stunde hatte sie im Kreißsaal einem Kind auf die Welt geholfen, jetzt war sie dabei, alles für die nächste Geburt herzurichten. Sie war fast fertig, als die Tür aufgerissen wurde.
»Ein Notfall«, rief Mona. Alinas Kollegin stützte eine hochschwangere Frau, die sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Kleidung war schweißdurchtränkt, ihre Augen weit aufgerissen und gerötet.
»Bring sie hierher!« Alina deutete auf die Liege. Ihr Ton war ruhig und bestimmt. Das beklemmende Gefühl von Dringlichkeit kannte sie nur zu gut.
Gemeinsam hoben sie die Frau vorsichtig auf die Liege. Ihre Hände krampften sich um die Laken, als würde sie sich an einem letzten Funken Hoffnung festhalten.
»Ihr Name ist Faly, erstes Kind. Sie ist zu Fuß hergekommen. Sie hat unregelmäßige Wehen, aber offenbar ist sie stundenlang gelaufen«, fasste Mona zusammen, was sie wusste.
Die Klinik war klein und ihre Mittel begrenzt. Und doch strömten jeden Tag von weit her Menschen herein, deren Not sie oft bis an ihre Grenzen brachte, und darüber hinaus. Viele in der verzweifelten Hoffnung, rechtzeitig Hilfe zu finden.
»Okay, du bist in Sicherheit«, sagte Alina mit fester und beruhigender Stimme zu Faly und prüfte ihre Vitalzeichen. Ihre Finger fühlten sanft den Puls am Handgelenk der Patientin, während sie aufmerksam die Zeit auf ihrer Armbanduhr verfolgte. Der Puls war schwach und unregelmäßig, ein alarmierendes Zeichen. Sie griff nach dem Blutdruckmessgerät, wickelte die Manschette um den Arm der Frau und pumpte sie auf. Der Blutdruck war viel zu niedrig.
»Sie ist dehydriert«, sagte Alina.
»Ich mache eine Infusion fertig«, erklärte Mona, und Alina tastete vorsichtig den Bauch der Frau ab, um die Lage des Babys zu bestimmen. Es schien in einer guten Position zu sein, die Frau hatte deutliche Wehen. Alina konnte die Anspannung in ihrem Gesicht sehen, die Augen zusammengekniffen vor Schmerz. »Weißt du, wann das Kind kommen soll?«, fragte sie, doch Faly schüttelte nur den Kopf.
»Noch zwei Wochen«, brachte sie über die Lippen, und Alina dachte erleichtert, dass es dann wohl keine dramatische Frühgeburt war.
Während Mona sorgfältig die Infusion setzte, nahm Alina ein kaltes, feuchtes Tuch und legte es der Frau auf die Stirn, um ihr etwas Linderung von der Hitze zu verschaffen.
«Das wird dir helfen, dich besser zu fühlen,« sagte sie, als die Flüssigkeit zu tropfen begann. Faly schloss erschöpft die Augen, ein leises Stöhnen entrang ihren Lippen.
Mona überprüfte, wie weit der Muttermund schon geöffnet war, gleichzeitig kontrollierte Alina die Herztöne des Babys. Das rhythmische Pochen des kleinen Herzens war stark und regelmäßig, was Alina ein wenig beruhigte.
»Das Herz deines Babys schlägt kräftig,« sagte sie, um der werdenden Mutter Mut zu machen. Die Patientin öffnete die Augen, und ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Sieben Zentimeter«, erklärte Mona und Alinas nickte ihr zu. Damit war die Geburt zwar schon in vollem Gang, aber bis zur Entbindung hatten sie noch etwas Zeit.
»Gut.« Alina drehte sich um und stieß dabei gegen eine Flasche Wasser, die in Scherben und Splittern auf dem Boden zerbarst. »O nein, das hat mir gerade noch gefehlt!« Sie ging in die Knie und sammelte mit der Hand die größten Stücke ein, die sie in den Mülleimer warf. »Ich hole schnell einen Feger. Bin gleich wieder da, okay?«
Mona nickte. Sie waren ein eingespieltes Team.
Alina verließ den Raum und durchquerte eilig den vollen Wartebereich. Patienten und Angehörige drängten auf den Stühlen und Bänken, manche saßen auf dem Boden oder lehnten an den Wänden und warteten auf die Versorgung ihrer Krankheiten und Wunden. Das typische Chaos herrschte in der Klinik, es war ein normaler Tag, der Andrang würde erst gegen Abend weniger werden, wenn die Dunkelheit hereinbrach und die Menschen den Weg scheuten. Zu unsicher war es dann, denn die einzige Straße hierher war weder ausgebaut noch beleuchtet.
Alina erreichte die Abstellkammer, wo das Putzzeug aufbewahrt wurde, fand den Feger und eilte wieder hinaus. Kurz bevor sie den Kreißsaal erreichte, stieß sie beinahe mit ihrem Chef zusammen.
»Alina, hier sind Sie«, begrüßte Dr. Godfrey sie, als hätte er sie gesucht. Neben ihm befand sich ein Mann Anfang dreißig, dessen dunkelblondes Haar in allen Richtungen vom Kopf abstand. Er schwitzte, was angesichts seiner Kleiderwahl nicht verwunderlich war. Die lange Jeans und ein weißes Hemd über einem T-Shirt waren viel zu warm. Er sah so müde und erschöpft aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Dabei war er im Gegensatz zu ihrer Patientin ganz sicher nicht stundenlang mit Wehen zu Fuß hierhergelaufen, sondern war wohl eher bequem im Taxi vorgefahren.
Godfrey lächelte Alina an. »Ich möchte Sie mit jemandem bekanntmachen. Dr. Westermann, das ist Alina Hofer. Doktor Westermann ist Gynäkologe, er kommt aus Deutschland. Und er wird ganze sechs Monate bei uns bleiben.«
Ihr Chef strahlte stolz wie ein Jäger, dem ein besonders prächtiger Fang gelungen war. Alina wusste, wie glücklich Godfrey über diese Unterstützung war. Er tat alles dafür, seine Klinik am Laufen zu halten, da kam der freiwillige Einsatz eines Arztes für so lange Zeit höchst gelegen. Sie wandte sich an ihren neuen Kollegen. »Herzlich willkommen in Madagaskar«, begrüßte sie ihn auf Deutsch.
»Sie sprechen Deutsch?« Seine Augen weiteten sich offenbar erleichtert, gleichzeitig ungläubig.
Alina kannte dieses Staunen, und sie mochte es nicht. Aber mit einem madagassischen Vater und einer deutschen Mutter hatte ihre Haut einen einzigartigen Ton, und ihr langes Haar war tiefschwarz. »Du bist zu dunkel für eine typische Deutsche.« Das hatte sie in ihrem Leben oft genug zu hören bekommen.
»Ich komme aus Bonn«, erklärte sie kühl und kniff dabei prüfend die Augen zusammen. Sie war gut darin, Vorurteile herauszuhören, besser, als ihr lieb war.
»Das ist ja ein Zufall. Wir sind ja quasi Nachbarn. Ich wohne in Köln«, kommentierte Bastian Westermann. »Wie lange sind Sie schon hier?«
Alina überlegte einen Augenblick, rechnete die Jahreszahlen in ihrem Kopf aus. »Seit fünf Jahren.«
Er starrte sie an. »So lange? Aber nicht freiwillig, oder?«
Sie runzelte die Stirn. Was dachte sich dieser Kerl? »Ich werde bezahlt, wenn Sie das meinen.«
»Nein, es ist nur … Wie kann man … Fünf Jahre. Du liebe Zeit«, murmelte er, wohl mehr für sich selbst. Er brach mitten im Satz ab, aber als er kurz seinen Blick im Raum schweifen ließ und dabei seufzte, ahnte sie, was er meinte. Er verstand nicht, wie man es so lange an einem Ort wie diesem aushalten konnte.
Der Anblick der ärmlichen Ausstattung und die offensichtliche Armut der Patienten erschreckte die meisten Ärzte, die für ein paar Wochen oder Monate hierherkamen, um zu arbeiten. Keine Frage, sie waren aus ihren Heimatländern höhere Standards gewöhnt. Klinisch weiße Sauberkeit, moderne Geräte, vielleicht sogar weniger kranke Patienten. Zumindest galt das für diejenigen aus westlichen Ländern. Oft schon hatte sie die Unsicherheit und auch ein gewisses Unwohlsein bei neuen Kollegen gespürt, die bislang aus Kanada, Spanien und Frankreich gekommen waren. Zu groß waren die Unterschiede zu ihren Heimatländern, zu überwältigend die ersten Eindrücke. Aber sie alle hatten auch geleuchtet, voller Vorfreude auf die neue Herausforderung, für die sie sich ehrenamtlich gemeldet hatten.
Bastian Westermann leuchtete nicht. Im Gegenteil, sein düsterer Blick verriet, dass er nur ungern hier war.
Arroganter Idiot, dachte Alina und presste die Lippen zusammen, um nicht versehentlich ihre Gedanken auszusprechen.
Godfrey, der kein Wort von dem verstanden hatte, was die beiden gesprochen hatten, wohl aber die Missstimmung zwischen ihnen zu spüren schien, zog die Augenbrauen hoch. »Gibt’s Probleme?«
»Nein. Nein, alles in Ordnung«, betonte Bastian Westermann rasch, und Alina schwieg dazu.
Erleichtert lächelte Godfrey. »Wunderbar. Dann zeige ich Ihnen als nächstes den OP, werter Kollege. Kommen Sie.«
»Gerne.« Bastian Westermann nickte Alina zu. »Also dann … wir sehen uns.« Damit wandte er sich um und folgte Doktor Godfrey.
Alina blieb allein zurück und sah ihm nach. Das konnte ja heiter werden. Wie sollte sie mit so einem Snob zusammenarbeiten?
Eine Stunde später half sie Faly dabei, einen gesunden Jungen auf die Welt zu bringen.
»Wie soll er heißen?«, fragte Alina, als sie das Kind vorsichtig auf die mütterliche Brust legte.
»Noé Nandrasana«, antwortete Faly mit hörbarem Stolz und konnte den Blick nicht von ihrem Baby abwenden. »Noé, wie sein Vater, Nandrasana habe ich ausgesucht.«
»Das klingt schön. Noé kenne ich, was heißt Nandrasana?« Alina wusste, dass die Namen auf Madagaskar eine tiefere Bedeutung hatten, die den Lebensweg der Kinder positiv beeinflussen sollten. Sie trat ans Waschbecken, um sich die Hände zu säubern. Ihr Blick fiel durch das Fenster nach draußen, wo Bastian Westermann damit beschäftigt war, seinen Koffer in die nebenan liegende Unterkunft für Ärzte und Schwestern zu schleppen. In das Haus, in dem auch sie selbst wohnte.
»Er ist der Erwartete, der Gewünschte«, hörte sie Faly hinter sich sagen und seufzte. Auf diesen neuen Arzt traf das ganz sicher nicht zu.