Leseprobe "Drei Tage für immer"
Kapitel 1
Hamburg, Tag 1
Juli
Die Menschen auf der Vernissage fand Juli fast genauso sehenswert wie die Werke, die in der weiträumigen Galerie präsentiert wurden. Unauffällig beobachtete sie die Damen und Herren, die Kunstkenner und diejenigen, die sich dafür hielten. Viele standen in kleinen Grüppchen zusammen und sprachen und lachten miteinander, in ihren Händen hielten sie Gläser mit fein perlendem Champagner. Andere schritten langsam zwischen den Exponaten herum, blieben gelegentlich stehen und tauschten murmelnd ihre Eindrücke aus. Juli fragte sich, wie viele der Anwesenden sich tatsächlich für die großformatigen Fotografien interessierten und ob nicht doch einige nur hier waren, um selbst gesehen zu werden.
Sie hatte heimlich darauf gehofft, den Fotokünstler kennenzulernen, vielleicht ein paar Worte mit ihm wechseln zu können, fachlich versiert, immerhin studierte sie Fotografie. Aber Helmut Ochsfeld war die ganze Zeit über umschwärmt von Gästen, und Juli hatte gezögert, ihn anzusprechen, sie wollte sich nicht aufdrängen, dem Meister nicht lästig sein. Doch nun, da sich die Veranstaltung dem Ende zuneigte, hatte er sich mit einigen Auserwählten in ein Hinterzimmer zurückgezogen und schien dort zu bleiben. Juli seufzte beim Anblick der geschlossenen Tür. Ihre Chance war vertan. Ein wenig betrübt erinnerte sie sich daran, dass es schon ein unerwartetes Glück war, dass sie überhaupt hier war. Sie hatte die begehrten Karten von einer Kommilitonin bekommen, die selbst verhindert war, und sich darauf gefreut, die unverhoffte Gelegenheit für ein Wochenende in Hamburg mit ihrer besten Freundin Eva zu nutzen. Eva war ebenso begeistert von der Idee, gemeinsam hatten sie Zugtickets und ein Hostelzimmer gebucht, Pläne geschmiedet und alles vorbereitet, doch dann hatte Eva nur Stunden vor ihrer Abreise abgesagt, weil sie sich in der PR-Agentur, in der sie arbeitete, um einen großen Auftrag kümmern musste. Die Absage hatte Juli enttäuscht. Sie war kurz davor gewesen, alles hinzuwerfen und zuhause in Köln zu bleiben, aber nach einer Stunde des Nachdenkens hatte sie beschlossen, allein nach Hamburg zu fahren. Diese Vernissage konnte sie sich nicht entgehen lassen, auch wenn es allein sicher nicht ganz so unterhaltsam war, wie es mit Eva gewesen wäre. Juli wollte einfach das Beste aus den drei Tagen in Hamburg machen.
Inzwischen hatte sie alle Bilder genau betrachtet, regelrecht studiert, und sie überlegte, was sie allein mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Es war erst früher Abend, sie wollte sich durch die Stadt treiben lassen, vielleicht würde sie irgendwo etwas essen und die Lichter des Hafens bei Nacht bewundern.
Sie straffte den Körper und ging zum Ausgang, doch auf dem Weg dorthin kam sie nochmals an dem Exponat vorbei, das ihr beim Rundgang am besten gefallen hatte. Die schwarz-weiße Fotografie zeigte eine heruntergekommene Häuserfront, aus deren Fenster sich eine Frau lehnte und in die Ferne schaute, wobei nicht erkennbar war, was sie sah. Juli mochte das Bild, auch jetzt fesselte es sie, und sie blieb erneut davor stehen. Minutenlang musterte sie die Mimik der Frau, fragte sich, ob darin Vorfreude oder Sorge lag. Hatte sie jemanden entdeckt, der ihr etwas bedeutete? Oder hatte sie einen Unfall beobachtet?
»… oder Garnelen?«, fragte eine Stimme hinter ihr plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und hielt mitten in der Bewegung inne. Überrascht schaute in das lächelnde Gesicht eines jungen Mannes. Seine braunen Augen betrachteten sie erwartungsvoll und gleichermaßen fragend. Seine dunkelblonden Haare lockten sich wild durcheinander und passten nicht recht zu seiner ordentlichen Kellneruniform. Unter einem weißen Hemd, schwarzer Weste und Krawatte und einer langen schwarzen Schürze erkannte Juli einen schlanken, trainierten Körper. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass er ihr ein Silbertablett entgegenhielt.
»Oh, Häppchen!«, entfuhr es ihr. Die verschiedenen kleinen Köstlichkeiten, die kunstvoll auf silbernen Löffeln dargeboten wurden, sahen verführerisch aus, und es fiel ihr schwer, sich zu entscheiden.
»Es sind Garnelen mit Mango-Chutney, rote Beete mit Ziegenkäse und Lachs in Wasabi«, erklärte der Kellner freundlich.
Um ihn nicht zu lange warten zu lassen, nahm Juli sich einen Löffel mit einer Garnele und schob ihn in den Mund. Die Kombination mit saftiger Mango und pikantem Chili war perfekt ausgewogen. »Mmh, das ist fantastisch«, sagte sie, und der Kellner lächelte.
»Ja?«
Juli nickte. »Definitiv. Sie sollten das mal probieren. Sie verpassen etwas.«
Jetzt lachte er, seine weißen Zähne blitzten dabei, er schien zu glauben, dass sie scherzte. »Wenn Sie das sagen.«
»Ich meine das ernst«, sagte Juli bestimmt. Sie schaute auf das Tablett. »Es gibt nur noch einen Löffel mit Garnele? Schade.«
»Nur zu.«
»Sicher, dass Sie den nicht möchten?«
»Ganz sicher.«
Juli nahm den Löffel und genoss beim Essen die Aromen, die ihren Gaumen verwöhnten.
»Der Lachs in Wasabi ist auch sehr gut, wie ich hörte«, sagte der Kellner, aber Juli schüttelte den Kopf.
»Oh, nein, das ist mir zu scharf. Wasabi mag ich nur, wenn es am Tellerrand liegt und ich es selbst dosieren kann.« Sie legte die beiden Löffel zur Seite.
»Verstehe.«
Juli wollte sich wieder dem Bild zuwenden, doch etwas hielt sie ab. Ihre Augen streiften den Kellner, der sie weiter ansah, als könnte er sich ebenso nicht recht von ihr lösen. Er hielt ihren Blick fest, nur kurz, doch es fühlte sich für Juli auf eine seltsame Art länger an, beinah wie eine Ewigkeit. Dann schüttelte er leicht den Kopf, atmete tief durch und wandte sich dem Exponat zu. »Das ist ein gutes Foto«, sagte er.
»Finde ich auch«, brachte sie hervor, überrumpelt von dem Moment und von seinem Blick, in dem etwas gelegen hatte, was sie nicht zu deuten vermochte. Unerwartet nervös suchte sie nach einer charmanten Bemerkung, richtete die Augen dabei auf das Exponat und spürte seine Nähe, obwohl er einen Meter neben ihr stand. Kein einziges passendes Wort kam ihr in den Sinn, sie tippelte auf ihren Füßen und stand dabei schweigend vor dem Foto. Auch er sagte nichts, als würde er warten.
»Na dann«, hörte sie ihn schließlich sagen, »… einen schönen Abend noch.«
»Danke. Gleichfalls«, stotterte sie, verärgert über ihre Einfallslosigkeit, und sah ihm nach, als er ging. Sie beobachtete, wie er das Essen weiteren Gästen anbot und dann in der Menge verschwand. »Na super«, murmelte sie, warf noch einen Blick auf das Bild und beschloss dann, die Vernissage zu verlassen. Sie war in Hamburg, sie wollte etwas erleben.