Leseprobe "Die Untiefen zwischen uns"

Ein Tag im April an der spanischen Costa Blanca


Ella hielt den Atem an, während sie vorsichtig die Haustür aufschob. Vor ihr lag ein kleiner Flur, der ins Dunkel führte. Ein muffiger Geruch strömte ihr entgegen, und sie blieb einen Moment lang stehen, ohne genau zu wissen, worauf sie wartete. Nichts rührte sich, alles blieb ruhig und still. 

Was habe ich denn auch erwartet? Als kämen mir hier jetzt Fledermäuse entgegengeflattert.

Sie schluckte trocken, dann betrat sie zögernd das Haus, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren.

Sie hatte nicht genau gewusst, was sich hinter der Tür verbarg. Obwohl sie mit ihren Eltern fast jeden Urlaub in diesem Haus verbracht hatte, waren die Erinnerungen daran im Laufe der Zeit verblichen wie Fotos. Auf der Fahrt hierher hatte sie intensiv darüber nachgedacht, ob ihre Vorstellungen der einzelnen Zimmer überhaupt der Realität entsprachen. War das Gebäude so weitläufig, wie sie es als Neunjährige zuletzt empfunden hatte? Würde sie die Bilder an den Wänden wiedererkennen und sich an alle Möbelstücke erinnern? Waren überhaupt noch Möbel darin oder war das Haus längst ausgeräumt und verkommen? Zwar wusste sie, dass eine Hausverwaltung offiziell damit beauftragt war, die Räumlichkeiten instand zu halten – aber diese Arbeit hatte nie jemand kontrolliert. 

Als sie nun nach wenigen Schritten das Wohnzimmer betrat, stellte sie als Erstes fest, dass der Lichtschalter nicht funktionierte. Sicher war der Strom abgedreht worden. Nur schwach fielen vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Vorhänge. Sie erkannte Silhouetten von Möbeln, immerhin, das Haus war nicht leergeräumt. Ella tastete sich vorsichtig bis zum Fenster, das die ganze Wand einnahm, und zog den schweren Stoff zur Seite. Augenblicklich flutete Licht herein, und Ella ließ ihren Blick schweifen. Das Zimmer war tatsächlich so großzügig gestaltet, wie sie es in Erinnerung hatte. Die dunklen Holzbalken des Daches ruhten auf hohen, weiß gekalkten Wänden. Bunte Ölgemälde hingen dort, und jetzt, da sie die Bilder vor sich sah, erinnerte Ella sich wieder an sie. Dennoch bot der Raum einen abstrakten Anblick, denn irgendjemand hatte alle Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt. Die Szenerie erinnerte Ella an eine Galerie voller Kunstwerke, nicht an ein Zuhause.

 Kurzentschlossen raffte sie das erste Laken herunter, ohne zu wissen, was sich darunter verbarg. Staub wirbelte auf und tanzte in der Luft. Sie hustete, bis sie das Möbelstück erkannte und sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Vor ihr stand ein Sessel, der Lieblingssessel ihres Vaters. Er hatte so oft darin gesessen, dass das Sitzkissen sich mit der Zeit seinem Körper angepasst und eine leichte Vertiefung angenommen hatte. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über das kühle, weiche Leder. 

Unter dem nächsten Laken entdeckte sie den Esstisch, der glänzte, als hätte gerade erst jemand die Platte mit einem feuchten Tuch abgewischt. Bewundernd betrachtete sie das Holz. Als Kind war ihr die feine Maserung nie aufgefallen, aber jetzt wurde sie sich der Hochwertigkeit des Tisches bewusst. Während sie nun ein Tuch nach dem anderen von den verbliebenen Möbeln zog, verdichtete sich ihre Erinnerung - bis der Raum wieder dem Bild entsprach, das sie von ihm gehabt hatte.

Alles wirkte jetzt einladend und freundlich, als wäre das Haus froh, wieder Leben zu beherbergen. In einer Ecke wartete ein Kamin nur darauf, angezündet zu werden, und in einem gemauerten Fach darunter waren Dutzende Holzscheite aufgestapelt. Selbst die Streichhölzer lagen schon auf dem Sims bereit. Neben dem Kamin stand ein großes Sofa, das mit bunten Kissen dekoriert war. Ella schmunzelte. Ihre Mutter war nach diesen Kissen verrückt gewesen, immer wieder hatte sie auf Märkten und in kleinen Läden neue Modelle und Farben entdeckt und nur selten widerstehen können. Ella nahm eines der Kissen in die Hand, betrachtete es und fragte sich, was ihre Mutter wohl an diesem Exemplar überzeugt hatte. Der samtige Stoff? Doch wohl nicht das wilde Design aus Pailletten und Perlen? Sie legte das Kissen zurück, und ihr Blick fiel auf die Fensterfront vor dem Sofa. Obwohl das Glas schmutzig war – ein gelblicher Staubschleier hatte sich daraufgelegt – bot sich von hier aus eine einmalige Aussicht. Einige Hundert Meter entfernt lag das Meer, das sich wie ein blaues Tuch in die Landschaft gelegt hatte und sich bis zum Horizont erstreckte. Die Wellen bildeten kräuselnde Muster, die im Sonnenlicht funkelten. 

Weit hinten erkannte Ella die Fischerboote, die in den Hafen zurückkehrten.

Wie immer um diese Zeit. Wie früher. 

Sie öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Am Rand des Grundstücks entdeckte sie drei Zypressen, die beim letzten Mal noch kleiner als sie selbst gewesen waren. Inzwischen hatten sie eine stattliche Größe erreicht und verströmten ihren würzigen Duft, den Ella so liebte. Sie atmete tief ein, füllte ihre Lunge mit der weichen Luft und schloss einen Moment lang die Augen. Die Sonne schien in ihr Gesicht, und ihre Wärme streichelte sanft über Ellas Haut. Sie genoss den Moment, und als sie die Augen wieder öffnete, lächelte sie. 

Sie wandte sich ab und machte sich daran, die restlichen Räumlichkeiten zu begutachten. Sie begann in der Küche, wo eine Ordnung herrschte, als wäre die Zeit erstarrt. Ella öffnete einen Schrank nach dem nächsten und entdeckte darin Teller, Schüsseln, Gläser. Alles lag und stand sauber gestapelt am richtigen Platz. Wer auch immer hier aufgeräumt hatte, hatte ganze Arbeit geleistet. 

Als Nächstes öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Mittig an der rechten Wand stand ihr großes Doppelbett, fein säuberlich abgedeckt mit einer hellen Tagesdecke. Auf einem der Nachttische lag ein Brillengestell.

Ist das Papas Lesebrille? 

Ella nahm sie in die Hand und drehte sie vorsichtig wie einen kostbaren Schatz zwischen den Fingern, bevor sie die Brille wieder zurücklegte. 

Zu ihrer Linken erstreckte sich der Kleiderschrank über die ganze Wand, und schon als Ella die Schiebetüren öffnete, ahnte sie, dass auch hier alles unverändert geblieben war. Natürlich. Alle Teile lagen in geordneten Stapeln oder hingen auf Bügeln, bereit, endlich herausgezogen und getragen zu werden. Das rote Sommerkleid ihrer Mutter, die Lieblingsjacke ihres Vaters. Und für den Bruchteil einer Sekunde sah Ella ihre Eltern in diesen Kleidungsstücken vor sich. Unbeschwert und fröhlich. Sie hörte das Lachen ihrer Mutter, und die Stimme ihres Vaters klang in ihren Ohren. Unverständlich, aber vertraut und lebendig. 

Der Moment durchfuhr sie so unerwartet und heftig, dass sie nach Luft schnappte. Es tat immer noch weh. Sie kannte diese Situationen, in denen der Schmerz von früher in ihr aufblitzte und für einen Augenblick alles in ihr verbrannte. Diese Zwischenfälle waren viel seltener geworden, der letzte lag sogar schon einige Jahre zurück. Dennoch hatte sie immer damit gerechnet, dass es wieder passieren konnte, dass ein Bild, ein Ton oder eben ein Kleidungsstück die Erinnerung an ihre Eltern wachrufen konnte. Gerade hier, wo sie noch immer so präsent waren wie nirgendwo sonst auf der Welt, wo jeder Gegenstand ihr eigen gewesen, von ihnen selbst ausgewählt und benutzt worden war. Aber die Wucht dieses Gefühls überraschte sie und hielt sie für einen langen Augenblick gefangen – bis sie ihre Hände zu Fäusten ballte und ihre Fingernägel tief und schmerzhaft in die Haut bohrte. Ihr alter Trick funktionierte noch immer, das Bild ihrer Eltern löste sich auf, und der Schmerz ließ nach. 

Ella stand reglos vor dem Kleiderschrank und starrte hinein. Was soll ich mit all den Teilen tun? Aufheben? Aber für wen? Nein, ich werde alles ausräumen und spenden, an wen auch immer. Aber weder heute noch morgen und auch nicht bald. Irgendwann. 

Schnell schloss sie den Kleiderschrank wieder. Im Badezimmer lagen noch immer die Kämme ihrer Mutter, und im Gästezimmer, das ihre Eltern gelegentlich als Büro genutzt hatten, lagen Bleistifte, frisch angespitzt. In beide Räume warf sie nur einen kurzen Blick, ihre Neugier trieb sie in das letzte Zimmer. ‘Ella’ stand in großen, bunt angemalten Holzbuchstaben auf der Tür, die sie nun öffnete. Sonnenstrahlen fielen durch die rosafarbenen Vorhänge und tauchten ihr altes Kinderzimmer ganz in ihre damalige Lieblingsfarbe. Ella drehte sich langsam um sich selbst, während sie alles auf sich wirken ließ. Vom Kopfende des Bettes aus sah sie ein lila Plüschhase mit großen Augen an. Im Regal stapelten sich Brettspiele, eine Wasserpistole in Delfinform und ein Springseil. An den Wänden hingen Pferdeposter und einige Bilder, die sie mit Buntstiften von ihrer Familie gemalt hatte.

Sie sank auf das Bett, legte sich hinein und schloss die Augen. Hier, auf diesem Kissen, hatte sie damals immer geschlafen und etwas Schönes geträumt. Sicher auch in dieser letzten Nacht, in der ihr Leben so beneidenswert kindlich glücklich war. Der nächste Tag hatte die Schwere mit überwältigender Macht in ihr Leben gebracht, die Dunkelheit und die Einsamkeit. Der nächste Tag. Der Todestag ihrer Eltern. Noch während sie darüber nachdachte, zogen die Anstrengungen des Tages sie in einen tiefen Schlaf.


In der folgenden Woche war Ella beschäftigter, als sie es nach dem ersten Rundgang durch das Haus erwartet hatte. Die offensichtliche Ordnung war zwar eine erfreuliche Überraschung gewesen, bei genauerem Hinsehen war ihr aber klar geworden, dass trotzdem noch viel Arbeit auf sie wartete. 

Zunächst hatte sie sich darum gekümmert, dass Strom und Wasser wieder liefen, um überhaupt die rudimentärsten Bedürfnisse befriedigen zu können. Die beauftragte Hausverwaltung hatte sich bei Ellas Erscheinen im örtlichen Büro zwar überrascht gezeigt, aber in den letzten Jahren tatsächlich dafür gesorgt, das Haus instand zu halten. 

Die funktionierende Elektrizität hatte dennoch eine unangenehme Entdeckung für sie bereitgehalten. Kaum, dass die Lampen wieder hell leuchteten, erkannte Ella, dass sich überall Staub festgesetzt hatte. Auf jeder noch so kleinen Oberfläche und in allen Ritzen lag eine dicke, teils speckige Schicht. Tagelang war sie damit beschäftigt, alles abzuwischen, zu schrubben und manches zu polieren. Sie fegte Unmengen Spinnendreck aus den Ecken und putzte fluchend die großformatigen Fenster. Wie immer schaffte sie es nicht, das Glas gänzlich streifenfrei zu wischen, aber immerhin konnte sie wieder ohne einen gelben Schmutzfilter hinausschauen. 

Das Wohnzimmer gefiel ihr jetzt als Erwachsene noch viel besser als früher als Kind, und so beließ sie das Mobiliar nahezu unverändert. Der Geschmack ihrer Eltern war erfreulich zeitlos gewesen. Bis heute wirkte die Einrichtung gemütlich. Selbst die zweifelhaften Kissen ihrer Mutter behielt sie, wenn auch mehr aus Sentimentalität denn aus Überzeugung. Auch das Büro blieb, wie es war. Sie würde es selbst als Arbeitsplatz nutzen, sofern sie ihren Computer nicht einfach mit nach draußen auf die Terrasse nehmen konnte.

Im Bad hatte sie alle Schränke geleert und die zahllosen Habseligkeiten ihrer Eltern entsorgt. Es war ihr nicht sonderlich schwergefallen, die alten Bürsten und angestaubten Waschlappen in Mülltüten zu stopfen. Auch die Ausstattung ihres alten Kinderzimmers hatte sie leicht in Kisten packen können. So schön es auch gewesen war, das Zimmer ihres neunjährigen Ichs noch einmal, so bewusst war sie sich der Tatsache, dass sie den Raum komplett verändern musste, um ihn jetzt für sich nutzbar zu machen. Mit frischer Farbe und neuen Möbeln hatte sie sich eine ganz neue, sommerlich leichtee Atmosphäre für ihr Zimmer erschaffen. Einzig das Schlafzimmer ihrer Eltern hatte sie seit dem Tag ihrer Ankunft nicht mehr betreten. Den Gedanken, das Bett in Zukunft selbst zu nutzen, hatte sie nach dem Erlebnis am offenen Kleiderschrank sofort wieder fallengelassen. Plötzlich erschien es ihr makaber und unpassend, dort zu schlafen. Gleichermaßen entschlossen schob sie die Aufgabe, sich endgültig von den hier verbliebenen persönlichen Dingen ihrer Eltern zu trennen, noch weiter weg. Stattdessen hielt sie die Tür meist geschlossen und nutzte den Raum nur, um zwischendurch etwas darin zu lagern.


Als sie an einem Donnerstagnachmittag endlich mit den wichtigsten Arbeiten fertig war, setzte sie sich mit einem Glas frischgepressten Orangensaft auf die Terrasse. Ella war zufrieden, sie fühlte sich angekommen. Das Ferienhaus ihrer Eltern war nun ihr Haus, ihr Zuhause. Hier hatte sie die glücklichsten Tage ihres Lebens verbracht, und so sehr sie die Zuversicht darüber selbst erstaunte, so sicher wusste sie, dass es wieder so sein würde. Beim Gedanken an die nächsten Wochen und Monate empfand sie ein Kribbeln in sich, voller Vorfreude. Wie schön es werden würde, nahezu jeden Tag Sonne auf der Haut zu fühlen, die salzige Luft zu atmen und lange Spaziergänge am Strand zu unternehmen. Sie genoss es schon jetzt, morgens vom Bett aus eine weite Aussicht zu haben, ein richtiges Panorama – und nicht wie bisher in Deutschland den schnöden Blick auf die gegenüberliegende Häuserwand. 

Sie dachte kurz daran, dass ihr der Abschied von ihren Freundinnen nicht leichtgefallen war, aber das lag an der Wehmut der anderen. Nicht alle hatten Verständnis dafür gehabt, dass Ella in Deutschland alles hinter sich ließ, um in Spanien einen neuen Anfang zu wagen. Vielleicht, weil sie diese Entscheidung so plötzlich getroffen hatte. Erst vor wenigen Wochen hatte sie von dem Ferienhaus erfahren, nachdem sie jahrelang geglaubt hatte, es sei nach dem Unfall verkauft worden. Ihre Oma hatte es geerbt, aber nie ein Wort darüber verloren, sondern eine Decke des Schweigens darüber gelegt - wie ein Leichentuch. 

Als Ella nach dem Tod ihrer Oma vom Notar darüber informiert worden war, dass sie selbst nun die Besitzerin war, hatte sie es minutenlang nicht glauben können. Es war ein grauer Tag im Januar gewesen, und als sie die Kanzlei verlassen hatte, war sie gedankenverloren in schmutzigen Schneematsch getreten. Kalt und nass war er in ihre Schuhe gelaufen, während Ella sich in ihrem Kopf das Haus am Meer ausgemalt hatte, die Sonne und die Wärme. Sie war frierend mit der Straßenbahn gefahren und hatte wenig später ihre Wohnung betreten. Diese Räume, zwei Zimmer, Küche, Bad, in denen sie sich nie Zuhause gefühlt hatte, nur geduldet. Da hatte sie gewusst, was sie tun musste, wohin sie gehörte. 


Und jetzt war sie tatsächlich hier. Lächelnd streifte sie die Schuhe von den Füßen und rieb ihre nackten Zehen aneinander. Sie freute sich auf ihr bevorstehendes Abenteuer. Auf neue Erlebnisse und fremde Menschen.

Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie schnell Bekanntschaften schließen würde, das hatte sie früh gelernt.