Leseprobe "Restsüße"
Das Tropenhaus dampfte. Es war stickig, die Luft machte das Atmen schwer und legte sich feucht auf die sattgrün glänzenden Blätter und den hölzernen Steg, der durch die Anlage führte.
Sarah blieb stehen und wischte sich über die Stirn. Die Hitze in diesem Bereich des Zoos machte sie träge. Ihre Augen wanderten über die exotischen Pflanzen, die sich dem gläsernen Dach entgegenstreckten. Sie entdeckte bunte Vögel, die laut rufend durch die Halle flogen und erstaunlich große Schmetterlinge, die an einer Schale mit Nektar tranken und dabei langsam ihre pudrigen Flügel schlugen. Unter ihr, am Ufer eines trüben Wassertümpels, lagen Kaimane. Sarah betrachtete die Tiere, die mit halb geöffneten Mäulern am Ufer auf Beute lauerten. Völlig regungslos, nur der Glanz ihrer Augen zeugte von ihrer Echtheit.
»Pass auf!«, rief die Stimme, als sie plötzlich nach vorn gestoßen wurde und stolperte. Sie versuchte noch, sich am Geländer festzuhalten, als im gleichen Moment zwei starke Hände sie festhielten. Ihr Herz raste, aber sie riss sich zusammen, während sie sich zu ihm umdrehte.
»Dennis! Du hast mich erschreckt!«
Sie schlug ihm mit der Hand auf die Brust, und er grinste.
»Tut mir leid.« Dann zog er sie an sich und küsste sie auf die Nasenspitze. »Na, komm. Da vorne ist das Nachthaus.«
Hand in Hand ließen sie die Hitze hinter sich und traten in das rötliche Dämmerlicht der künstlichen Nacht. Die Wände waren einem Felsen nachempfunden und die Gehege der Bewohner darin hinter Glas eingelassen. Sarah und Dennis schlenderten von einem zum nächsten, nur gerade so leise flüsternd, wie es von den Besuchern erwartet wurde. Manche Tiere entdeckten sie erst auf den zweiten oder dritten Blick, bei anderen überraschte sie deren Giftigkeit. Schließlich erreichten sie ein recht großes Tiergehege und blieben vor der Trennscheibe aus Plexiglas stehen.
Dennis beugte sich zum Informationsschild und las mit zusammengekniffenen Augen vor: »Das ist ein …«
»Possum«, unterbrach Sarah ihn lächelnd. Sie konnte den Blick kaum von dem kleinen Fellknäuel abwenden, das vorsichtig auf allen vieren einen Ast hinab balancierte. Die rosa Nase schnuppernd in die Luft haltend, folgte es einer Duftspur, bis es unter einem Stein ein verstecktes Bananenstück fand und es gierig in sein Maul stopfte. Trotz der Dunkelheit erkannte Sarah die Zähne des Tieres, sein kleines, kräftiges Raubtiergebiss. Unvermittelt strich sie mit ihrem Daumen über die Narbe an ihrer Hand.
Es war jetzt fast fünf Jahre her, seit ein deutlich wilderes Possum sie dort gebissen hatte. Seit diesem Wochenende. Dem letzten Wochenende mit ihm, Josh. Bilder flackerten in ihr auf, sie sah das Zelt vor sich, ihr Kanu auf dem smaragdgrünen Wasser, sein Gesicht. Eine längst verdrängte Wehmut schlich sich in ihre Gedanken, als Dennis’ Stimme sie aus ihren Erinnerungen riss.
»Hier steht aber, dass es ein Fuchskusu ist. Das heißt, warte, du hast recht …«, er las nuschelnd weiter, »… bezeichnet als Possum, gilt in Neuseeland als Plage und wird bejagt.« Er lachte amüsiert auf und trommelte mit den Fingerspitzen an die Scheibe. »Na, da hast du ja Glück gehabt, dass du hier wohnen darfst, nicht wahr?«
Das Tier reagierte nicht auf ihn und suchte unbeeindruckt weiter nach Essbarem. Dennis klopfte etwas lauter. »Die Neuseeländer schießen Viecher wie dich über den Haufen, hörst du?« Er hielt Daumen und Zeigefinger wie einen Revolver auf das Possum gerichtet und kicherte. »Peng, peng, peng!«
»Nicht alle Neuseeländer«, murmelte sie leise.
»Was hast du gesagt, Liebes?« Er sah sie so aufrichtig interessiert an, dass sie einen Moment lang versucht war, ihm die Geschichte hinter ihrem Kommentar zu erklären. Ihm diesen Abend zu schildern, der am anderen Ende der Welt, irgendwo auf einer neuseeländischen Küstenstraße eine abenteuerliche Wendung genommen und ihr im Nachhinein so viel bedeutet hatte. Damals, an diesem Abend, war ihr plötzlich alles so klar geworden.
Aber etwas in ihr wehrte sich dagegen, Dennis davon zu erzählen. Sie mochte dieses Erlebnis nicht als lustige Anekdote darbieten. Dafür war es zu wichtig gewesen, zumindest für sie selbst. Nein, sie würde jetzt nicht darüber reden. Außerdem kannte sie Dennis ja kaum. Heute war eines ihrer ersten Dates, wer hörte da schon gerne Geschichten von vergangenen Liebschaften?
»Ach, nichts. Das erzähle ich dir ein anderes Mal.«
Sein prüfender Blick wurde schnell weich, dann lächelte er sie liebevoll an.
»Okay.« Er legte den Arm um sie und zog sie mit sich. »Lass uns weitergehen. Es gibt hier noch viel zu entdecken.«
Kapitel 1
Fünf Jahre vorher
»Das ist total lecker! Willst du mal probieren?« Miriam hielt Sarah eines ihrer Kaugummis hin. Sarah warf nur einen kurzen Blick darauf und nickte.
»Ja.« Sie seufzte genervt. »Sag mal, wie weit ist es denn noch?!« Sie umklammerte das Lenkrad und versuchte, sich im Fahrersitz gerader aufzurichten. Ihr Auto hoppelte über die unbefestigte Straße, kleine Steinchen knallten gegen die Türen und hinter ihnen verschleierte eine schmutzige Staubwolke die Sicht.
»Keine Ahnung. Nicht mehr so weit, glaub ich«, antwortete Miriam. Sie wickelte das Kaugummi aus, reichte es Sarah und warf das Papier achtlos auf den Boden.
»Gleich fährst du weiter, okay? Oder wir machen in Blenheim eine Pause. Ich hab langsam keine Lust mehr.« »Klar. Pause klingt gut«, sagte Miriam fröhlich. Im gleichen Moment wurde das Auto deutlich langsamer, bis es nur noch in Schrittgeschwindigkeit rollte. »Ach so, jetzt sofort?« Miriam schaute verwundert zu Sarah, die ihre Augen weit aufriss.
»Was ist denn hier los?« Sarahs Stimme klang plötzlich alarmierend schrill. Sie drückte mit aller Kraft auf das Gaspedal, aber das zeigte keine Wirkung. »Es fährt nicht. Ich kann gar nichts machen!«
Mit jedem Meter verlor der Wagen an Geschwindigkeit und Sarah schaffte es mit Mühe, ihn an den linken Straßenrand zu lenken. Dort rollte er aus, bis er ganz stehen blieb. Sarah versuchte, den Motor neu zu starten, aber sie hörten nur ein merkwürdig hohl klingendes Rasseln.
»Und nun?« Miriam kaute weiter auf ihrem Kaugummi.
»Keine Ahnung.« Sarah versuchte einen weiteren Neustart, aber der Wagen blieb still, nicht einmal das Rasseln war mehr zu hören. »Ich fürchte, wir müssen eine Werkstatt finden«, befand sie.
Sie stiegen aus und sahen sich um. Außer ihnen war niemand in dieser Gegend unterwegs. Dicht bewaldete Hügel neigten sich fast bis zum Straßenrand, und auf der gegenüberliegenden Seite wuchsen Gräser, Büsche und Bäume wild durcheinander, nur mühsam mit einem kleinen Drahtzaun begrenzt. Über ihnen führten Stromleitungen zu weit entfernter Zivilisation. Ein leichter Sommerwind spielte durch die Blätter der Bäume.
»Hier ist ja kein Mensch weit und breit!«, rief Sarah hilflos. »Wo sind wir denn überhaupt?« Sie breitete die Straßenkarte auf der Motorhaube aus und betrachtete die skizzierte Südinsel Neuseelands, die nun vor ihr lag.
»Da. Kurz vor Rarangi.« Miriam tippte mit ihrem blau lackierten Fingernagel auf den winzigen Punkt auf der Karte. »Aber ich weiß nicht, ob es da eine Werkstatt gibt. Das sieht so klein aus.«
Sarah zog ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Shorts und zog die Nase kraus. »Kein Netz. Na, wunderbar. Sowas musste ja mal passieren. Und dann ausgerechnet hier.«
Miriam zuckte die Schultern. »Irgendwer wird uns schon helfen.« Sie lehnten sich ans Auto und warteten. In weiter Ferne blökte ein Schaf.
Sie waren seit sechs Monaten und vier Tagen in Neuseeland unterwegs. Keine ganze Woche nach der offiziellen Verleihung ihrer Abiturzeugnisse waren sie in Christchurch, auf der neuseeländischen Südinsel, angekommen. Das Auto hatten sie einem holländischen Pärchen, das kurz vor der Abreise war, für verdächtig wenig Geld abgekauft und bis jetzt tatsächlich keine einzige Panne gehabt. Obwohl sie damit schon so viel erlebt hatten, immerhin hatten sie in den letzten Wochen einen großen Teil der Südinsel und die ganze Nordinsel erkundet. Seit zwei Tagen waren sie wieder zurück auf der Südinsel, denn von dort würde in knapp zwei Monaten ihr Rückflug gehen. Von ihrer geplanten Route waren sie längst abgewichen. Immer wieder hatten sie spontan gehalten oder waren, wenn es ihnen irgendwo besonders gut gefiel, länger geblieben.
Sie hatten sich in den bizarrsten, ursprünglichsten und schönsten Landschaften wiedergefunden und es nicht fassen können, dass sie tatsächlich hier waren, am anderen Ende der Welt. So viele Leute hatten ihnen vor ihrer Reise versichert, wie einmalig Neuseeland sei. Jeder hatte von freundlichen Menschen, putzigen Tieren und beeindruckenden Landschaften erzählt. Alle hatten von grünen Hügeln und tropischen Wäldern geschwärmt und die unendliche Weite des Landes geschildert. Aber keine Erzählung, kein Reisebericht im Internet und kein Foto in den Bildbänden hatte Sarah und Miriam auf das vorbereitet, was sie tatsächlich erlebten.
Sie wanderten zwischen Farnen, die größer waren als sie selbst, und entdeckten Vögel, winzig wie Tischtennisbälle. Sie stapften durch vulkanische Mondlandschaften und paddelten durch kristallklares Meerwasser, das sich an weiße Sandstrände schmiegte. Sie sahen zahllose Schafe, die auf grünen Hügeln grasten und majestätisch bewacht wurden von schneebedeckten Gletschern. Sie hielten die Luft an, um leuchtend bunte, aber entsetzlich stinkende Schlammtümpel zu bewundern, und stürzten sich atemlos kreischend an Bungeeseilen in die Tiefe. Sie begegneten traditioneller maorischer Kultur und tauchten ins Nachtleben der modernen Städte.
Nachts schliefen sie meist in ihrem Zelt und gelegentlich, wenn das Wetter zu schlecht war oder sie einfach ein wenig mehr Komfort brauchten, in einem Hostel. Überall trafen sie auf andere Reisende, aus allen Ecken der Welt. Oft tauschten sie Tipps aus, und manchmal fanden sie auf diesem Weg eine Gelegenheit, um Geld zu verdienen. So hatten sie in Auckland Werbezettel verteilt, in Roturua in einer Spülküche gearbeitet und bei einem älteren Ehepaar in Dunedin tagelang den Garten gepflegt. Es waren meist langweilige Jobs, aber die einzige Chance, ihre Reise überhaupt zu finanzieren.
Zwei Stunden hatten sie an ihrem Wagen gewartet, bis ein neuseeländisches Paar Mitleid mit ihnen gezeigt hatte. Ihr Angebot, den Wagen zu einer Werkstatt kurz vor Blenheim zu schleppen, nahmen sie dankbar an. Nun standen sie in »Graham’s Garage« und warteten auf den Befund des Meisters. Die Halle war klein und schmutzig, überall standen oder lagen alte Autoteile und Werkzeuge herum, ohne dass irgendeine Form von Ordnung erkennbar gewesen wäre. Neben der eigentlichen Werkhalle lag ein Raum, der mehr einem Raucherzimmer denn einem Büro glich. Die Fenster hatten über die Jahre einen schmierigen Gelbstich angenommen und obwohl die Tür offen stand, dünstete jedes Teil darin den Geruch von kaltem Rauch aus. Auf dem Schreibtisch befanden sich ein überquellender Aschenbecher, schmutzige Teetassen und ein Stapel Zeitschriften. Graham schien sich sehr für Sport zu interessieren.
Außer ihnen hatte er keine anderen Kunden zu bedienen, was seiner Arbeitsmoral eine gewisse Trägheit verlieh. Emotionslos hörte er zu, während Sarah ihm schilderte, was passiert war. Dann rieb er schweigend sein Kinn, blieb jedoch weiter auf seinem abgewetzten Drehstuhl sitzen, als würde ihn das gar nichts angehen. Miriam ließ geräuschvoll eine Kaugummiblase platzen. Schließlich stand er auf und schlurfte murmelnd zum Auto der Mädchen. Graham beugte sich über die geöffnete Motorhaube, klopfte hier und da mit seinem Schraubenschlüssel, und versuchte den Wagen zu starten. Nach einer Weile nickte er seufzend und winkte Sarah und Miriam zum Auto heran. »Die Benzinpumpe ist hinüber.«
»Klar«, Miriam nickte wissend. »Und was heißt das?«
»Die muss ausgetauscht werden.« Seine trüben Augen fixierten die beiden.
»Und das können Sie?« Sarah merkte bereits während sie sprach, wie unangemessen das klang, und setzte schnell hinzu: »Also, ich meine, haben Sie eine neue Pumpe hier? Eine passende?«
»Kann sein.«
»Was, äh… kostet denn so eine Pumpe?«
»Muss ich nachgucken. Vielleicht vierhundert Dollar.«
»Vierhundert?!« Miriams Stimme überschlug sich fast. »Aber dann haben wir für die restliche Zeit keine 100$ mehr!« Graham schien unbeeindruckt. Abwartend lehnte er sich an das Auto und steckte die Hände in die Hosentaschen. Sarah schluckte. »Miri, ich glaube, wir haben keine große Wahl.«
»Aber wie soll das denn gehen? Das ist so viel Geld! Können wir die blöde Karre nicht einfach hier lassen und mit dem Bus weiterfahren?«
»Und du glaubst, das ist billiger? Außerdem: Wir müssten dauernd unser Gepäck tragen. Die Rucksäcke, das Zelt, den ganzen Kram halt. Das ist viel zu viel. Und lästig.« Miriam stöhnte. »Dann müssen wir ja doch nochmal arbeiten.«
»Sieht so aus.«
»Aber ich verteile nicht wieder Flyer. Auf keinen Fall. Wenn ich noch ein einziges Mal stundenlang in irgendwelchen Fußgängerzonen herumstehen muss, um genervten Touris blöde Zettel zuzustecken, flippe ich aus!«
Sarah grinste. »Wir werden schon was anderes finden. Versprochen.« Dann wandte sie sich an Graham. »Wie lange dauert die Reparatur?« Der Mechaniker murmelte wieder etwas Unverständliches, schlurfte in eine Ecke seiner Werkstatt und machte sich dort an einem Regal zu schaffen.
Sarah und Miriam blieben am Auto stehen und sahen sich ratlos an. »Oh, na, hoffentlich hat der Meister überhaupt noch einen Termin frei«, giftete Miriam genervt, und Sarah kicherte.
Nach einigen Minuten kam Graham zurück. »Ich muss die Pumpe erst bestellen. Holt den Wagen morgen ab. Morgen Nachmittag.«
»Morgen Nachmittag?« Miriam zog die Wörter in die Länge.
Graham nickte, kniff die Augen zusammen und sprach nun ebenfalls betont langsam. »Nicht vor vier.«
Sarah räusperte sich. »Gibt es hier in der Nähe denn einen Zeltplatz, wo wir schlafen können?«
Graham schüttelte den Kopf. »Nein.« Er wandte sich dem Auto zu. Dann drehte er sich noch einmal zu ihnen um. »Da vorne könnt ihr ja mal fragen.«
Sarah schaute in die Richtung, in die er deutete. Sie erkannte ein hübsches Wohnhaus, das mit vielen bunten Blumen im Vorgarten einladend und gemütlich aussah. Ein kleines Schild, gerade so groß, dass man es nicht übersehen konnte, wies es als B&B aus und schaukelte quietschend im Wind. »Ein B&B …. Günstig wird es nicht sein«, meinte sie.
»Fragen kostet nichts. Vielleicht können wir im Garten zelten.« Miriam hatte bereits ihren Rucksack geschultert. »Komm schon, Sarah. Worauf wartest du?«
Die Besitzerin des B&B, Margaret Fletcher, war eine ältere Dame. Alles an ihr strahlte. Ihre kurzen, silbergrauen Haare glänzten im Licht, ihre Augen leuchteten herzlich und sie lachte die beiden Mädchen an, als wären sie lange erwartete Gäste.
»Natürlich habe ich ein Zimmer für euch! Es hat das bequemste Bett der Welt und ein eigenes Bad mit Dusche. Woher kommt ihr?«
»Aus Deutschland, Köln. Wir sind seit sechs Monaten unterwegs.« Sie hatten diese Frage in den letzten Monaten so oft gehört, dass sich inzwischen Routine in ihre Antwort eingeschlichen hatte.
»Oh, wie schön! Da habt ihr bestimmt schon viel erlebt.« Margaret drehte sich zum Flur um. »Kommt, ich zeige euch das Zimmer.«
Sarah und Miriam blieben unentschlossen in der Tür stehen. »Äh, wir haben ein kleines Problem.« Sarah war es peinlich, ihre Frage zu formulieren. Miriam nicht.
»Könnten wir eventuell im Garten zelten, statt ein Zimmer zu nehmen? Wir haben nämlich fast kein Geld mehr, weil unser Auto in der Werkstatt steht und die Reparatur unfassbar teuer ist. Da vorne. In Graham’s Garage. Mehr als zwanzig Dollar können wir für eine Übernachtung leider nicht bezahlen.«
Margaret zögerte, während die beiden sie unsicher anlächelten. Sarah spürte, wie Margaret sie von oben bis unten musterte. Sarah hatte ihre langen, dunklen Haare zu einem Zopf gebunden, wodurch ihr hübsches Gesicht gut zu sehen war. Sie trug dezenten Schmuck, ein schlichtes T-Shirt mit einer kurzen Hose und leichte Sandalen. An Miriam war dagegen alles bunt. Ihre Haare, deren Strähnen teilweise geflochten waren, hatten seit einem missglückten Färbeversuch einen leuchtenden Blauton. In ihrer Nase trug sie einen silbernen Ring, und ihre Fingernägel waren in zehn verschiedenen Farben lackiert. Ihr Ringelshirt fiel etwas unförmig über ihre kurze, zerrissene Jeans, und ihre Füße steckten in erstaunlich groben Stiefeln.
»Es tut mir leid, ich kann euch nicht im Garten zelten lassen«, erklärte Margaret schließlich bedauernd.
Sarah hatte mit dieser Antwort gerechnet und griff nach ihrer Tasche. »Okay, danke trotzdem.«
»Aber vielleicht möchtet ihr euch das Zimmer mal ansehen? Ihr habt Glück. Nur heute kostet es zwanzig Dollar.« Ihre Augen blitzten schelmisch. »Dafür erwarte ich allerdings einen ausführlichen Reisebericht heute beim Abendessen.« Die drei Frauen grinsten sich an.
Das Abendessen stellte sich als typisch neuseeländisch heraus, es gab Whitebait- Frikadellen mit Salat. »Ich habe noch nie so leckere Fischfrikadellen gegessen!«, bemerkte Miriam kauend, und Sarah warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. Sie wusste genau, dass Miriam überhaupt noch nie Fischfrikadellen gegessen hatte, aber es war tatsächlich lecker, und so nickte auch Sarah zustimmend.
Sie saßen mit Margaret und ihrem Mann Steve auf der Terrasse des Hauses. Steve war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einer starken Brille, die seine Augen riesig erscheinen ließen. Auf Sarah wirkte er wie eine freundliche Eule. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch die vielen Fragen, die Steve ihnen stellte. Er wollte so viel wie möglich über Deutschland, Europa und die bisherige Reise der beiden hören und gab zwischendurch launige Kommentare ab. Sarah und Miriam erzählten lebhaft von ihren Erfahrungen und Erlebnissen und zeigten auf ihrer zerknitterten Straßenkarte die Lage einiger interessanter Orte. Je länger der Abend dauerte, desto wohler fühlten sie sich.
Margaret hatte nach dem Abendessen einfach nicht aufgehört, die Weingläser zu füllen, und ihrerseits Geschichten erzählt. Sie und Steve hatten zwei Söhne, die beide auf der Nordinsel lebten und seltener nach Hause kamen, als ihre Eltern sich das wünschten. Sarah überlegte, ob sie ihr Wohnhaus vielleicht deshalb als B&B führten, um die Leere der alten Kinderzimmer zu füllen. Margaret schien ihre Gedanken zu lesen.
»Ich liebe es einfach, mit Menschen Kontakt zu haben, wisst ihr? Hier trifft man ja immer dieselben Leute«, sagte Margaret.
»Und sie erzählen immer dieselben Geschichten«, ergänzte Steve mit einem Schmunzeln.
»Oh ja. Versteht mich nicht falsch, ich mag die Bewohner hier. Ich bin ja selber eine!« Sie lachte. »Aber es ist doch immer spannend, neue Menschen zu treffen, nicht wahr? Wir sind zu alt, wir können nicht mehr so viel reisen wie früher.« Sie machte eine Pause und Steve strich ihr liebevoll über die Hand. »Von hier aus ist der Rest der Welt ganz schön weit weg.«
»Deshalb müssen die Reisenden jetzt zu uns kommen.« Steve erhob sein Glas. »Auf die Reisenden!«
Sarah ergänzte: »Und auf die, die ihnen ein Dach über dem Kopf geben!«
Als Sarah am nächsten Morgen aufwachte, fragte sie sich im ersten Moment, wo sie war. Sie hatte so fest geschlafen wie lange nicht und wunderte sich beim Blick auf die Uhr, dass es erst halb sechs war. Sie blieb noch im Bett liegen und ging in Gedanken den gestrigen Abend durch. Es war spät geworden, sie waren alle vier überrascht gewesen, als sie beim Verlassen der Terrasse einen Blick auf die Uhr geworfen hatten.
Dennoch fühlte sie sich bereits ausgeschlafen. Neben ihr schnarchte Miriam leise in ihr Kissen, genau so, wie sie es immer tat. Sarah stand auf, zog die Vorhänge ein kleines Stück zur Seite und betrachtete die Aussicht ihres Zimmers. Auf der Hauptstraße des Ortes war kaum etwas los. Nur wenige Menschen waren unterwegs und auch die Werkstatt lag geschlossen da. Die Sonne hatte noch keine Kraft, und so hingen leichte Nebelschleier über dem sanft geschwungenen Land, das von Hügeln umrahmt wurde. Etwas weiter entfernt entdeckte Sarah riesige Weinfelder, die sich bis zum Horizont erstreckten. Hunderte Weinreben standen in perfekter Ordnung aneinandergereiht.
Sarah bemühte sich, so leise wie möglich zu sein, während sie duschte und die Haare wusch. Eine eigene und noch dazu saubere Dusche war ein seltener Luxus auf dieser Reise, und sie genoss das frische Gefühl danach umso mehr. Als sie sich angezogen hatte, saß sie einen Moment unschlüssig auf ihrem Bett. Miriam würde noch lange nicht aufwachen, aber sie hatte wenig Lust, bis dahin still im Zimmer zu sitzen.
Schließlich ging sie nach unten und entdeckte, dass die Gläser und leeren Flaschen vom letzten Abend noch immer draußen auf der Terrasse standen. Kurzentschlossen räumte sie den Tisch ab und wischte ihn sauber. Im Haus war nichts zu hören, alle schienen fest zu schlafen. Sarah hatte die Gläser zunächst nur in die Küche gestellt, jetzt sorgte sie auch hier für ein wenig Ordnung. Margaret war eine großartige Köchin, aber offenbar genauso chaotisch. Überall standen die Töpfe und Pfannen herum, lagen schmutzige Bestecke und Teller. Nach und nach hatte Sarah alles gespült und gereinigt und weil sie nicht recht wusste, wohin alles gehörte, stapelte sie das Geschirr auf den kleinen Küchentisch. Als sie fertig war, blitzte und blinkte die Küche. Die Uhr zeigte jetzt kurz vor acht.
Zufrieden mit sich trat Sarah hinaus auf die Terrasse. Sie grenzte an einen Garten, der nur ein kleines Stück Rasen hatte, aber dessen Randbeete überquollen mit Blumen und Pflanzen. Es war Dezember, und der neuseeländische Sommer strebte auf den Höhepunkt zu. Steve hatte letzte Nacht erzählt, dass er viel Zeit hier verbrachte, aber in der Dunkelheit waren nur Silhouetten erkennbar gewesen. Jetzt aber entdeckte Sarah prächtige Rosenbögen, Lupinen in Lila und Rosa und die so exotisch anmutende blaue Iris, die überall im Land an Zäunen und Wegen wucherte und über die ihnen eine freundliche Neuseeländerin einmal gesagt hatte, das Beste an ihr sei, dass das Vieh sie nicht fraß. Jeder Zentimeter dieses Gartens war mit viel Liebe gepflegt und umsorgt. Kein Wunder, dass wir hier nicht zelten durften, dachte Sarah.
»Oh mein Gott«, hörte sie plötzlich jemanden rufen. »Bin ich im falschen Haus?«
Sie drehte sich um und sah Margaret in der Küchentür stehen. Sarah durchfuhr der Gedanke, dass sie zu weit gegangen war, als sie die Küche aufgeräumt hatte. Immerhin war sie hier nur Gast und die Küche ein mehr oder weniger privater Raum, auch wenn sie gestern immer mal wieder gemeinsam dort gestanden hatten. Aber sie hatte sich einfach revanchieren wollen für den schönen Abend, das Essen und natürlich für das Zimmer, das eines der besten ihrer bisherigen Reise war. Verlegen trat sie näher. »Guten Morgen, Margaret. Es tut mir leid, ich wollte nicht … «
»Es ist wundervoll! So etwas hat noch nie ein Gast für mich getan! Ich danke dir!« Margaret strahlte über das ganze Gesicht und umarmte Sarah herzlich. »Wann bist du aufgestanden?«
»Schon eine Weile her. Aber ich habe so gut geschlafen wie lange nicht.« Sie lächelte.
»Es ist ein tolles Bett, nicht wahr? Aber jetzt trinken wir erstmal einen Tee.« Kurz darauf saßen sie mit ihren Teetassen auf einer Bank im Garten. Die blühenden Büsche um sie herum hüllten sie in eine Duftwolke.
»Danke, dass wir hier übernachten durften, Margaret. Ich weiß, dass das Zimmer normalerweise viel mehr kostet. Ihr habt uns gestern wirklich gerettet.«
Margaret winkte ab. »Ach was. Für uns war es auch ein toller Abend. Es passiert nicht oft, dass wir so junge Leute zu Gast haben.« Sie lachte. Dann wurde sie plötzlich ernst. »Hör mal, ich habe nachgedacht. Ihr braucht doch einen Job, nicht wahr?«
Sarah nickte gequält. »Ja, allerdings.«
»Könntet ihr euch vorstellen, auf einem Weingut zu arbeiten? Es ist kein leichter und ehrlich gesagt auch kein besonders spannender Job. Man muss früh raus, den ganzen Tag auf dem Feld stehen und immer die gleichen Handgriffe machen.«
Sarah schmunzelte. »Frühes Aufstehen klingt schon mal gut.«
»Ich kenne die Familie, die eines der größten Weingüter hier hat, es heißt ‚Eight Poplars Winery‘. Da vorne, siehst du die Weinstöcke?« Sie deutete auf die Felder, die Sarah bereits aus ihrem Fenster gesehen hatte. »Die gehören auch dazu.«
»Oh, also ist das Weingut hier im Ort, ganz nah?«
»Na ja, die Häuser sind schon ein Stück entfernt, aber nein, es ist nicht weit. Ich könnte mir vorstellen, dass sie noch Helfer suchen. Wenn du und Miriam das möchtet, rufe ich nachher mal dort an.«
»Würdest du das tun? Das wäre toll!« Sarah strahlte.
»Natürlich. Ich wollte mich ohnehin mal wieder bei den Whittakers melden. Und ich habe das Gefühl, du würdest gut dorthin passen.«