Leseprobe "Bittersüße"

September


Die Tür zu meinem Laden wurde aufgerissen und die kleine Glocke, die darüber hing, bimmelte aufgeregt. 

Ich war gerade dabei, noch eine Bestellung für den nächsten Morgen zu binden, einen Strauß aus Gerbera und Herbstastern. Überrascht warf ich einen Blick über meine Schulter, um zu sehen, wer da kurz vor Feierabend so hereingestürmt kam. Es war ein Mann, ich schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig. Etwas atemlos und die Hände in die Hüften gestemmt ließ er seinen Blick suchend über die Blumen schweifen, die in Eimern überall im Raum standen.

Ich legte die Stiele auf die Arbeitsplatte und wandte mich zu ihm um. »Guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich freundlich, während ich meine Hände an der Arbeitsschürze abwischte und auf ihn zu ging. 

»Hallo. Ich brauche einen Blumenstrauß, für zwanzig Euro etwa«, erklärte er und pustete sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, die unter seiner Mütze hervorquollen. Er hielt einen Moment inne, schaute mich erwartungsvoll an und schob hinterher: »Ich kenne mich damit aber nicht aus, überhaupt nicht.« 

Ich lächelte. »Kein Problem. Zu welchem Anlass brauchen Sie den Strauß denn?«

»Für einen Hochzeitstag. Einen vergessenen Hochzeitstag, um genau zu sein.«

Ich unterdrückte den Reflex, die Augenbrauen hochzuziehen. »Verstehe. Nun, Rosen sind natürlich …«

»Oh nein, keine roten Rosen, bitte«, unterbrach er mich. »Die sind so …« Er wedelte mit einer Hand in der Luft, als suchte er das richtige Wort.

»Banal?«, schlug ich leise vor, mehr an mich selbst als an ihn gerichtet.

Doch offenbar hatte er mich gehört, denn er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Ich entdeckte zwischen seinen Zähnen eine winzig kleine Lücke, gerade so schmal, dass sie charmant wirkte, nicht wie ein Makel.

»Ich wollte ‚offensichtlich‘ sagen, aber ‚banal‘ trifft es auch, ja.« 

Es kam nicht oft vor, dass Kunden meine Abneigung gegen rote Rosen teilten. Wenn ich so darüber nachdachte, passierte das gerade zum ersten Mal überhaupt. Rote Rosen waren schließlich ein Klassiker, ein Muss in jedem Blumenladen und ein sicherer Verkaufshit. Hier bei mir in Köln-Ehrenfeld genau wie in den Armen der nächtlichen Verkäufer und wie wahrscheinlich an jedem Bahnhofsshop weltweit. Jeder Mensch verstand die Symbolik dahinter. Wer diese Blumen verschenkte, wusste genauso sicher, was damit gesagt werden sollte, wie diejenige, die sie erhielt: Ich liebe dich. Vielleicht war es genau das, was ich an diesen eigentlich hübschen Gewächsen so langweilig fand. Wie konnte man damit tiefe Gefühle für jemanden ausdrücken? Sie waren doch überhaupt nicht persönlich!

Ertappt erwiderte ich sein Lächeln. »Was ich eigentlich sagen wollte, war: Rote Rosen sind eine Option, aber schöner wäre ein Strauß der Lieblingsblumen, oder?«

»Ja, absolut«, stimmte er mir zu und gab dann naserümpfend zu: »Die kenne ich allerdings nicht.« 

Puh. Erst vergisst er den Hochzeitstag, und dann weiß er nicht einmal, welche Blumen seine Frau mag. 

»Dann vielleicht die Lieblingsfarben?«, half ich ihm weiter.

»Rosa.« Er strahlte. 

»Sehr schön. Dann schlage ich vor, wir nehmen einige dieser Inkalilien und Germini hier und ergänzen sie mit Grün.«

Sein ratloser Blick folgte meinen Fingerzeigen zu den verschiedenen Blumen, dann zuckte er mit den Schultern. »Machen Sie einfach, ich vertraue Ihnen da voll und ganz.«

Ich zupfte einige Stiele heraus und ging damit an meinen Arbeitstisch. Während ich den Strauß band, flogen meine Gedanken zu Ben. 

Er würde unseren Hochzeitstag nie vergessen. Er ist so verlässlich. 

Allerdings konnte das Ben auch nicht passieren, denn wir waren gar nicht verheiratet. Nicht einmal verlobt, jedenfalls noch nicht. Doch das war nur eine Frage der Zeit. Wir waren seit fast fünf Jahren ein Paar, und ich war mir sicher, dass er mir bald die Frage aller Fragen stellen würde. Im Grunde rechnete ich täglich damit - wenn nur sein Job nicht wäre! Als Wirtschaftsanwalt hatte er immer viel Stress und seit er vor ein paar Monaten den besonders schwierigen Fall eines Münchner Klienten bekommen hatte, war er abends, wenn er nach Hause kam, erst recht müde und abgespannt. So machte man keinen Heiratsantrag. Aber ich setzte heimlich große Hoffnungen auf den vierzehnten Oktober, unseren Jahrestag. Ich hatte mir schon mehrfach versucht auszumalen, wie Ben um meine Hand bitten würde. Würde er auf die Knie fallen? Wie würde er die Frage formulieren und wie meine Antwort klingen? Würde es ein deutliches ‚Ja‘ sein oder wäre ich nur zu einem zittrigen Schluchzen in der Lage? 

»Könnten Sie den Strauß in Papier wickeln?«, fragte mich der Kunde plötzlich, und mit dem fertigen Strauß in der Hand sah ich perplex zu ihm auf. »Ja, ich will«, hauchte ich und korrigierte mich sofort, als er den Kopf leicht schräg legte. »Hm?«

»Ich meine natürlich, ja, selbstverständlich!« Ich spürte, wie die Röte in mein Gesicht schoss, strich eilig ein paar meiner blonden Strähnen hinter ein Ohr und tat so, als wäre nichts. Dass er mich jetzt allerdings musterte und dabei ein Schmunzeln über seine Lippen flog, machte die Sache nicht einfacher. Ich konnte ihm ansehen, dass er etwas sagen wollte, aber ich drehte mich schnell um und wickelte den Strauß wie gewünscht in Papier. Dann kassierte ich und war froh, als er wenig später den Laden verließ, noch immer mit einem Grinsen im Gesicht.